Verehrtester Herr Darwin!
Im August vorigen Jahres schrieb ich Ihnen, dass ich wahrscheinlich in kurzer Zeit nach Brasilien reisen würde.3 Nun, seit 3 Monaten bin ich denn glücklich hier in Porto Alegre, der Hauptstadt der Provinz Rio Grande do Sul. Ich bin nicht erst nach Blumenau zu Herrn Dr. Fritz Müller gegangen, weil, wie Sie wol wissen, die Colonie Blumenau durch eine Überschwemmung fast vollständig vernichtet worden ist.4 Später aber werde ich nach Blumenau gehen.
Ich habe hier in Porto Alegre schon fleissig gesammelt, meistens Insecten und Pflanzen. Von Insecten möchte ich zuerst eingehend die Schlupfwespen (Ichneumoniden) und Orthopteren vornehmen. Besonders zahlreich sind hier Stabheuschrecken (Familie der Phasmidae); dieselben sind in sehr zahlreichen Formen vertreten, so dass ich schon jetzt ihre Entstehung aus gewöhnlichen, normal gebauten Formen verfolgen kann. Auch Blattheuschrecken habe ich schon eine ziemliche Anzahl gefangen.5 Leider bin ich aber noch so dürftig mit Literatur versehen, dass ich vor der Hand noch nicht viel anfangen kann; auch weiss ich nicht, wo ich die betreffende Literatur bekommen soll. Noch schlimmer ist es mit botanischen Werken; denn die Flora brasiliensis von Martius6 ist so theuer, dass ich sie mir aus eigenen Mitteln nicht anschaffen kann. Fritz Müller hat auch fast gar Nichts, und das Meiste was er hatte, ist bei der Überschwemmung zu Grunde gegangen. Mehrere Fälle von Mimicry habe ich auch schon beobachtet.
Fritz Müller schrieb mir, ich möchte meine Aufmerksamkeit den bekannten Wechselbeziehungen zwischen Ameisen und Pflanzen zuwenden; leider aber sind mir derartige Fälle noch nicht zu Gesicht gekommen.7 Das Arbeitsfeld meines verehrten Lehrers H. Müller werde ich selbstverständlich nach Kräften zu bearbeiten suchen. Haben Sie schon das neue Werk von H. Müller gelesen?8 Ich habe es leider noch nicht erhalten. Auch würde ich mich sehr freuen, Ihr neues Buch über Bewegung der Pflanzen studieren zu können; ich hörte neulich, es sei schon erschienen.9
Seit einiger Zeit wohnt hier in der Nähe Herr Dr. H. v. Ihering, der Verfasser des Werkes über das Nervensystem der Mollusken.10 Ich habe ihn noch nicht gesprochen; er arbeitet fleissig über Wirbelthiere und Molluscen. In der hiesigen “deutschen Zeitung” veröffentliche ich seit einiger Zeit auf Wunsch des Herausgebers, Herrn von Koseritz, populäre Aufsätze über Entwicklungslehre, wol die ersten in Brasilien. Wenn, Sie wünschen, kann ich Ihnen dieselben nach Beendigung in einem Exemplar zusenden.11 Die hiesigen Jesuiten sind gerade nicht sehr erbaut über mein Hiersein und wünschen mich lieber weg.12
Meine kleine Skizze im “Kosmos” über die Entstehung der geschlechtlichen Fortpflanzung haben Sie wol von meinem Papa zugeschickt erhalten.13 In einiger Zeit werden Sie dann auch eine weitere in der “Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft” erscheinende Arbeit über Schmetterlingsrüssel von mir erhalten.14
Ich gedenke eine ziemlich lange Reihe von Jahren in Brasilien zu bleiben und glaube in dieser Zeit einiges zum Wol unserer Wissenschaft beitragen zu helfen.15 Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen dann und wann, wenn ich Etwas besonderes Interessante finde, Mittheilung machen.
Bitte, grüssen Sie gefälligst Ihren Herrn Sohn Francis16 bestens von mir.
Mit vorzüglichster Hochachtung | bin ich Ihr ergebenster | Dr. Wilhelm Breitenbach
Most esteemed Mr Darwin!
In August last year I wrote you that I would probably be travelling to Brazil shortly.3 Now, for 3 months I have been happily here in Porto Alegre, the capital of the province of Rio Grande do Sul. I did not first go to Blumenau to Dr Fritz Müller because, as you probably know, the colony of Blumenau was almost completely destroyed by a flood.4 Later on, however, I shall go to Blumenau.
Here in Porto Alegre I have been busy collecting, mostly insects and plants. Of the insects, I am planning to take on in detail first of all parasitical Hymenoptera (Ichneumonidae) and Orthoptera. The stick-insects (family of the Phasmidae) are particularly numerous here; they are represented in a great multitude of forms, so that by now I can already trace their origin in common, normally built forms. I also collected quite a number of walking leaves.5 Unfortunately, however, I am still so poorly equipped with literature that I can not do much for the time being; nor do I know how to come by the relevant literature. It is even worse with botanical works, for the Flora brasiliensis by Martius6 is so expensive that I am unable to afford it from my own means. Fritz Müller has hardly anything either, and most of what he had was destroyed in the flood. I also observed several cases of mimicry.
Fritz Müller wrote me that I might turn my attention to the well-known reciprocal relationships between ants and plants; but unfortunately I have not come across such cases so far.7 Of course I will endeavour to work on the field of research of my venerated teacher H. Müller to the best of my powers. Have you read the latest work by H. Müller yet?8 Unfortunately I have not yet received it. I would also very much like to be able to study your new book on the movement of plants; I heard lately that it has already appeared.9
For some time Dr H. v. Ihering, the author of the work on the nervous system of molluscs, has been living in the area.10 I have not yet spoken to him; he is busily working on vertebrates and molluscs. In the local “Deutsche Zeitung” I have for some time been publishing, at the request of the editor, Mr von Koseritz, popular articles on the theory of evolution, probably the first in Brazil. If you would like me to, I could send you a copy of these on completion.11 The local Jesuits are not exactly enthusiastic about my being here and wish I were gone.12
You will probably have received my little sketch in “Kosmos” on the origin of sexual reproduction sent by my papa.13 Then in a while you will also receive another work on the butterfly proboscis, published in the “Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft”.14
I am thinking of staying in Brazil for quite a number of years and hope to help contribute something to the good of our science.15 If you allow me, I shall report to you now and then, when I come across something particularly interesting.
Please kindly pass on my best wishes to your son Francis.16
With the greatest respect | I remain Your most devoted | Dr Wilhelm Breitenbach.
Please cite as “DCP-LETT-12962,” in Ɛpsilon: The Charles Darwin Collection accessed on